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Ein Gesamtkunstwerk, das Gänsehaut macht

Ein Gesamtkunstwerk, das Gänsehaut macht

 „Endstation Winterreise“ in der Schwerpunktwerkstatt Süd der VAG: 1000 Zuschauer für besonderes Event

Gut 1000 Zuschauer bei einem Liederabend: Von solchen Zahlen können Konzertveranstalter normalerweise nur träumen. Bei der „Endstation Winterreise“, die am Wochenende bei der VAG über die Bühne ging, wurde die Vision wahrhaft zauberhafte Wirklichkeit.

Es wäre leicht, das Großereignis als hohles Produkt einer sich selbst allmählich in Frage stellenden Eventkultur abzutun: Da starten zu früher Abendstunde sechs Straßenbahnzüge mit blickdicht verklebten Fenstern am Plärrer, um eine Schar abenteuerlustiger Klassikfans und neugieriger Musikfreunde zu einem sorgsam geheim gehaltenen Ort im Stadtgebiet zu bringen, wo Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ in Verbindung mit einer Schauspiel-Performance erklingen soll.

Was nach dem Plan gewiefter Werbestrategen riecht, entpuppt sich in der Realität als konzeptuell durchaus gelungenes Gesamtkunstwerk, von dem sich auch Klassik-Puristen nicht mit Grausen abwenden dürften.

Die viertelstündige Fahrt im mystisch bläulich schimmernden Halbdunkel eines quasi fensterlosen Zuges schafft es auch ohne das erhoffte Schneewetter, auf das Besondere einzustimmen, die Sinne für das Ungewöhnliche zu schärfen.

Denn in der VAG-Schwerpunktwerkstatt Süd, deren Haupthalle zum riesigen Konzertsaal inklusive Straßenbahn-Spalier umgestaltet wurde, geht es nicht einfach darum, eine Sternstunde des Liedgesanges zu zelebrieren.

Hier sollen dickere Bretter gebohrt werden, gilt es doch, die menschliche Einsamkeit an sich zu thematisieren und so den Nerv dessen zu treffen, was die heute Lebenden bewegt. Schuberts unglücklich Liebendem, dessen Weg unaufhaltsam in die Katastrophe führt, wird die Geschichte eines Mädchens gegenüber gestellt, das mit hochfliegenden Plänen und großen Erwartungen ins Berlin der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts kommt – und dessen Hoffnungen ebenso bitter enttäuscht werden, wie jene von Schuberts verschmähtem Liebhaber.

Wenn Klaus Feßmann zum Auftakt seinem Klangstein mystisches Schwirren entlockt, öffnet er damit die Türe zu einem surrealen Limbus, in dem gequälte Seelen nach einem Ausgang suchen. Das technoid kühle Ambiente der Straßenbahnwerkstatt verstärkt die Illusion der Ausweglosigkeit und hilft, die Affekte zu abstrahieren.

Schrille Landpomeranze

Silvina Buchbauer verkörpert ihr „kunstseidenes Mädchen“ aus einem Roman von Irmgard Keun (erschienen 1932) als schrille Landpomeranze. Sie will in der Metropole „ein Glanz“ werden und endet als die abgelegte Geliebte eines verheirateten Mannes. Bei dem Bariton Burkhard von Puttkamer und seinem Klavierpartner Philip Mayers schleicht sich die Apokalypse auf leiseren Sohlen heran, steigern sich Verzweiflung und Resignation subtil, manchmal sogar zu blass.

Der „Lindenbaum“ dürfte katastrophischer sein, das „Irrlicht“ schillernder und die „Wasserflut“ vielleicht noch eine Spur todessehnsüchtiger. Gegen Ende freilich werden auch Sänger und Pianist von jenem unentrinnbaren Emotionssog gefangen, den Raum und Situation ausüben und die „Winterreise“ steigert sich zum Gänsehaut machenden Zeitlupen-Tanz ins endgültige Nichts. Erschütternd.

 

HANS VON DRAMINSKI,   Nürnberger Nachrichten 27.11.2006

 

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